Sehr treffende Analyse zum aktuellen Stand des Konflikts Russland/NATO von Fabian Lehr:
Ist Russland in der aktuellen Zuspitzung der Ukrainekrise der Aggressor oder in einer defensiven Position? Beides - je nachdem, in welchem Kontext man den Konflikt betrachtet. Russland befindet sich seit den 90er Jahren geopolitisch ohne Zweifel in einer permanenten Defensive und das Zerbröseln der Überreste der russischen Einflusssphaere hat sich in den letzten Jahren beschleunigt. Die NATO hat sich nach 1990/91 entgegen ihrer feierlichen Versprechungen massiv nach Osten ausgedehnt, während ein einstiger russischer Satellitenstaat nach dem anderen weggebrochen ist. Die russischen Militäraktionen der letzten Jahre sind verzweifelte Versuche gewesen, mit Gewalt wenigstens noch ein paar kleine Reste der kollabierenden russischen Einflusssphaere festzuhalten. Wenn schon fast der ganze Kaukasus sich nach 1990 in neue Nationalstaaten aufgelöst hat, soll als kläglicher Rest der russischen Position im Kaukasus wenigstens noch Tschetschenien festgehalten werden. Wenn Georgien schon zu einem Russland feindlichen NATO-Vasallen wird, soll mit militärischen Mitteln wenigstens noch ein kleiner abchasischer Gebietsstreifen im Norden an Russland gebunden werden. Wenn die Ukraine, jahrhundertelang ein integraler Kernbestandteil des russischen Reiches, schon zu einem gegen Russland geifernden US-Satelliten wird, soll durch Besetzung der Krim und Unterstützung der Rebellen im Donbass wenigstens noch ein kleines bisschen was aus den Trümmern gerettet werden. Die russische Außenpolitik unter Putin ist ein zunehmend verzweifeltes Abbremsen des permanenten Niedergangs der russischen Machtstellung.
Die NATO-Staaten und ihre engsten Satelliten haben heute ein etwa fünfzehnmal so hohes Militärbudget wie Russland und haben Russland fast durchgehend umschlossen. Die Vorstellung, Russland sei eine aggressive Bedrohung Mittel- und Westeuropas und die NATO notwendig, um mit Müh und Not zu verhindern, dass die Russen nach Warschau und Berlin marschieren, ist angesichts der realen Kräfteverhaeltnisse völlig grotesk. Im Gegenteil wird Russland vom übermächtigen NATO-Block in die Ecke gedrängt, und dabei zeigen die USA und die EU in den letzten Jahren eine solche Aggressivität und Taktlosigkeit, dass Putin auf diese Provokationen auf irgendeine martialisch klingende Weise reagieren muss, wenn er nicht völlig das Gesicht verlieren und damit die innenpolitische Stabilität seines bonapartistischen Regimes riskieren will, dessen Konsens eben darauf beruht, die extreme, selbst die USA übertreffende soziale Ungleichheit des neokapitalistischen Russland durch Suggestion politisch-militaerischer Macht und Größe der Nation zu kitten.
Die Ankündigung, die Ukraine in die NATO aufzunehmen und dort westliche Truppen in Sichtweite zur russischen Grenze zu stationieren, die antirussische Kehrtwende der Ukraine damit unumkehrbar zu machen, ist die bisher heftigste dieser Provokationen, auf die Putin wohl oder übel reagieren muss. Man stelle sich vor, Kanada würde Teil einer russisch-iranischen Militärallianz und russische und iranische Divisionen und Luftwaffenbasen würden dort direkt vor der US-Grenze aufgebaut - glaubt irgendjemand ernstlich, dass irgendein US-Präsident das widerstands- und kommentarlos akzeptieren könnte, ohne dadurch innenpolitisch für immer erledigt zu sein?
Dieser aggressive Kurs der NATO drängt nun Putin dazu, zur innenpolitischen Gesichtswahrung mit einer regionalen Gegenaggression zu reagieren, um zu demonstrieren, dass man Russland noch nicht völlig übergehen kann. Der massive russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze ist zweifellos ein aggressiver Akt mit beträchtlichem Eskalationspotenzial - aber einer, der offenkundig zur Durchsetzung ziemlich bescheidener Ziele dienen soll. Die von Putin aufgebaute militärische Drohkulisse sollte einer simplen Forderung Nachdruck verleihen: Die NATO soll ihre Bereitschaft erklären, ihre bereits sehr weit getriebene Ostexpansion nicht noch weiter vorzuschieben, sie soll sich zum Verzicht darauf bereiterklaeren, die Ukraine nicht zu einem formellen Mitglied zu machen. Putin fordert NICHT, dass die Ukraine ihre aktuelle Westorientierung aufgibt und erst recht keine Annexion des Landes. Die einzige Forderung ist: Die Ukraine soll nicht offiziell ein NATO-Staat und keine hochgeruestete, gegen Russland gerichtete westliche Militärbasis werden, sondern eine militärisch neutrale Zone zwischen Russland und dem NATO-Block bleiben. Ein solches Szenario, in dem zumindest die Möglichkeit offenbleibt, dass die Ukraine sich irgendwann in Zukunft wieder einmal der russischen Seite zuneigen könnte, ist das Minimum, das Putin erreichen muss, um sich in Russland selbst nicht völlig zu blamieren und zu diskreditieren.
Aber mit der NATO, die offenkundig entschlossen ist, jetzt eine Situation zu erzwingen, in der Russland demonstrativ gedemütigt wird, ist nicht zu reden. Die Idee, den Verzicht wenigstens auf eine formelle NATO-Vollmitgliedschaft der Ukraine zu erklären, sei indiskutabel, Russland habe in den Angelegenheiten zwischen der Ukraine und der NATO überhaupt kein Recht, irgendetwas mitzureden. Im Gegenteil wird der offenkundig ziemlich verzweifelte russische Defensivakt, durch einen sehr plakativen Truppenaufmarsch Verhandlungen zu erzwingen, zu einem gegen ganz Europa gerichteten Angriffsplan umgedichtet und davon fantasiert, das unberechenbare und allmächtige Russland stehe kurz davor, aus heiterem Himmel eine Großinvasion vom Zaun zu brechen. Die Freiheit ganz Europas müsse jetzt in der Ukraine verteidigt werden, so tönt es aus Washington, aus der in eine immer schrillere antirussische Hysterie verfallenden rot-grünen Koalition in Berlin und aus allen liberalkonservativen deutschen Medien.
Eben diese kategorische Weigerung des NATO-Blocks, auf einer vernünftigen Grundlage mit Russland über eine Neutralität der Ukraine zu verhandeln, treibt Putin erst in eine Lage, in der vielleicht tatsächlich die Nerven durchbrennen könnten. Das Ziel des demonstrativen russischen Aufmarschs, der so laut und offensichtlich vollzogen wurde, dass er ganz offenkundig von der Welt gesehen werden SOLLTE, war ganz sicher nicht die Vorbereitung einer Eroberung der Ukraine, sondern die Erzwingung diplomatischer Gespräche über einen künftigen Status der Ukraine, den die russische Regierung ohne völligen Gesichtsverlust hinnehmen kann. Die Frage ist aber, was nun geschieht, nachdem der NATO-Block klargemacht hat, dass er zu keiner noch so geringfügigen auch nur symbolischen Rücksichtnahme auf die russische Position bereit ist. Wenn Putin seine Truppen nun klammheimlich einfach wieder abzieht und achselzuckend akzeptiert, dass die Ukraine dann eben eine gegen Russland gerichtete Bastion der NATO wird, ist die Demütigung doppelt und erklärt Russland damit seinen Verzicht auf die Stellung auch nur einer osteuropäischen Regionalmacht. Es sei noch einmal der Vergleich erlaubt, wie die USA darauf reagieren würden, wenn Kanada zu einer russisch-iranischen Militärbasis würde und Moskau nicht bereit wäre, über einen wenigstens formell neutralen Status Kanadas auch nur zu diskutieren.
In dieser Situation könnte Putin sich zur Sicherung seiner ansonsten wackelnden Stellung gezwungen sehen, zu einer Eskalation überzugehen, die der NATO-Block erst herbeiredet. Vielleicht wird Putin sich nun unter Druck sehen, die einmal zusammengezogenen Truppen auch tatsächlich einzusetzen entweder, um den Westen doch an den Verhandlungstisch zu bringen oder aber um, wenn der Eintritt der Ukraine in die NATO schon nicht mehr vermeidbar ist, wenigstens noch ein paar Fetzen für die russische Einflusssphaere zu retten wie damals in Georgien. Das könnte bspw. so aussehen, dass die russischen Truppen direkt auf der Seite der Separatisten im Donbass intervenieren und diese formell aus der Ukraine gelöst werden oder so, dass Russland sich einen Landkorridor zur Krim holt. Und das könnte, wenn die Ukraine mit einer heftigen Gegenoffensive antworten und die NATO sie dabei unterstützen sollte, zu einer potenziell sehr gefährlichen Ausweitung des Konflikts führen. Gerade die Tatsache, dass Russland sich im Großen in einer verzweifelten Defensive befindet, könnte also dazu führen, dass es zur Rettung dessen, was noch zu retten ist, sich gedrängt fühlt, auf regionaler Ebene wieder zu militärischer Eskalation überzugehen wie schon in Georgien. Die politische Aggression des unvergleichlich stärkeren und erfolgreicheren imperialistischen NATO-Blocks könnte beim in die Ecke gedrängten weit unterlegenen imperialistischen Player Russland die Nerven durchbrennen lassen und die militärische Eskalation herbeiführen, die man im Westen erst beschwört.
Das bedeutet nicht, dass Russland in diesem brandgefaehrlicheren Gerangel eine irgendwie fortschrittlichere oder sympathischere Seite repräsentieren würden. Das Russland Putins ist ein bonapartistisches Regime, in dem eine zynische Schicht milliardenschwerer Oligarchen herrscht, die sich durch die Plünderung der einstigen sowjetischen Planwirtschaft in fantastischem Maße bereichert und eine der ungleichsten Gesellschaften mit der krassesten Klassentrennung der Welt geschaffen haben. Auch die von Putin vertretene chauvinistische Ideologie mit ihrem großrussischen Geschichtsmystizismus zur Legitimation dieses Systems hat nichts Einnehmendes und ist weiß Gott keine progressivere Alternative zum NATO-Imperialismus. Aber der russische Imperialismus ist im Konkurrenzkampf mit dem NATO-Imperialismus der viel schwächere Part und Putin, der einen gesunden Sinn für die politische Realität hat, weiß das und handelt im Großen und Ganzen dementsprechend. Putin ist nicht der von westlichen Medien heraufbeschworene unberechenbare, grossenwahnsinnige neue Hitler, der in jedem Moment Europa zu erobern droht, den BILD und FAZ zeichnen, er ist ein relativ nüchtern kalkulierender Autokrat, der seine Herrschaft im Inneren stabil halten und seinem Staat nach außen zumindest den Status einer osteuropäischen Regionalmacht sichern will und soweit geht, wie das ohne unkalkulierbares Eskalationsrisiko eben möglich ist. Putin hat sehr deutlich gemacht, was er in der Ukrainekrise erreichen will: Die Ukraine darf kein NATO-Vollmitglied werden und soll militärisch neutral sein. Gewiss keine verrückte, maßlose Forderung. Die ganze Krise wäre ohne Zweifel zur allgemeinen Erleichterung sehr leicht zu lösen, wenn der westliche Block bereit wäre, im Gegenzug für eine russische Sicherheitsgarantie für die Ukraine zu erklären, dass das Land kein NATO-Vollmitglied werden wird. Es ist der Starrsinn und die Maßlosigkeit des weit überlegenen NATO-Imperialismus, für den ein Erhalt des Status quo in der Ukraine inakzeptabel ist, der erst droht, eine Situation zu erzwingen, die in einen großen Krieg in Europa münden könnte. Man braucht keine Sympathien für das putinsche Milliardärsregime, um lauten Widerstand der westlichen Bevölkerungen gegen den Imperialismus ihrer eigenen Regierungen für das Gebot der Stunde zu halten. Nicht aus abstrakten geopolitischen Prinzipien, sondern weil zweifellos niemand von uns Lust hat, in einen Weltkrieg zu schlittern, um die imperialistischen Gelüste von Biden, Scholz, Baerbock und Co zu befriedigen.
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